Die Konflikte vieler Menschen in Ostberlin und der DDR ergeben sich aus der politischen und ideologischen Beeinflussung von oben. Von Beginn ihrer Gründung an ist die SED angetreten, ein ihr genehmes Weltbild herzustellen, denn die Menschen in der DDR haben die SED nie an die Regierung gewählt. Der Versuch, ‚sozialistisches Bewußtsein‘ zu erzeugen, mußte einen staatlichen Zwangscharakter annehmen. Aber nicht nur äußerlich durch Polizei, Ministerium für Staatssicherheit (MfS), Partei und andere Organisationen tritt der Zwangscharakter eines Regimes, das sich auf die kommunistische Ideologie stützt, deutlich zutage. Er ist in der Ideologie selbst angesiedelt.

Die Entwicklung vom Niederen zum Höheren, vom Kapitalismus zum Sozialismus, wird als unausweichlich bezeichnet. Der Siegeszug des Sozialismus sei unaufhaltsam. Wer nicht für ihn arbeiten will, sei ‘Reaktionär‘. Vom Kritiker bis zum Gegner wird alles als ‚Reaktionär‘ abgestempelt. Die Wahrnehmung der tatsächlichen Welt wird der Zwangsjacke ideologischer Begriffe unterworfen. So wird klar festgestellt was ‚fortschrittlich‘ ist und was ‚reaktionär'‘ ist und bekämpft werden soll. ‚Reaktionär‘ ist auf alle Fälle stets der, der nicht der Meinung der SED ist.

Bereits vom Ansatz her wird damit gegen alle Vernunft verstoßen. Es geht der SED-Ideologie nicht darum, in alternativer Darstellung und Gegendarstellung zu existieren, sondern darum, so zu verkürzen und zurückzudrängen, daß die freie, bewußte und kritische Begriffsbildung schließlich der logischen Vernunft unterliegt.

Schon in der Kinderkrippe und im Kindergarten wird begonnen, die vorn Regime gewünschte Haltung im Gefühl des Kindes zu verankern.

Von den Wänden grüßen die Gesichter von Marx, Engels, Lenin, Honecker und Stoph. Sie machen sich für die kleinen Kinder väterlich. Es wird ihnen von ihrer sozialistischen Heimat erzählt. Dabei kommt das ‚schönste Land mit seinen glücklichen, arbeitenden Menschen‘ heraus und alles wäre gut, wenn es da nicht noch ‚die Feinde des Glücks und des Wohls gäbe.‘ So und ähnlich soll ein ‚Klassenstandpunkt‘ erzeugt werden. Zum ‚Klassenstandpunkt‘ gehört alles das, was der SED dient.

Der Jugendliche verfügt im Gegensatz zu seiner Kindheit bereits über einen Erfahrungsschatz aus der Alltagswelt des SED-Staates. Seine Kritik kommt aus der Praxis, denn er kann mit den fast leeren Begriffen, die er gelernt hat und mit denen er den ‚realen Sozialismus‘ begreifen soll, nichts anfangen. Da aber die Bewußtseinsinhalte schon im frühen Kindesalter indoktriniert werden, ist es dem Jugendlichen kaum möglich, zu vernünftigen, durch Erfahrung gebildeten theoretischen Anschauungen zu gelangen.

Den Marxismus-Leninsmus stößt er als wertlos ab. Doch wird der Jugendliche theorielos und verharrt in bloßer Opposition ohne eine greifbare Alternative. Er wird von anderen, politischen, philosophischen und kulturellen Strömungen bewußt ferngehalten. So bildet er oft vom 16. Lebensjahr ab einen destruktiven Nihilismus aus, indem er alle Werte ablehnt.

Eine ‚rationale Lücke‘ entsteht in den Anschauungen. Sie wird in gefühlsmäßiger Aufwallung mit westlichen Mode- und Firmenabzeichen, amerikanischen und westdeutschen Symbolen, gefüllt, die auf Hosen, Jacken, Hemden geklebt und genäht werden. Der Protest wird entrationalisiert.

Es ist dem typischen ‚DDR-Jugendlichen‘ nur selten möglich, die kommunistischen Denkschemen durch andere Denkrichtungen zu ersetzen. Ein gewisses Gegenangebot stellen jedoch die ‚Jungen Gemeinden‘ der Kirchen dar. Hier können sich die Jugendlichen vom ideologischen Streß ausruhen, können sich in einer Gruppe integrieren und einigermaßen frei fühlen. Das Christentum bietet einen ethischen und moralischen Halt. Es wird in der DDR weltnah, indem es der SED-Ideologie weltfern wird. Die ‚Jungen Gemeinden‘ leisten das, was die DDR außerhalb des Schutzes der großen Kirchen verbietet. Das Christentum bietet eine Chance, durch die Gemeinschaft mit anderen, nicht dem Pessimismus zu verfallen.

Ein verfeinertes Angebot kommunistischer Denkkategorien stellt der Eurokommunismus dar. Für den Kommunismus, wie er in der DDR praktiziert wird, ist so gut wie kein Bürger. Aber dafür, daß Menschenrechte in der sozialistischen Gesellschaft verwirklicht werden, sind viele. Mit eurokommunistischen Inhalten wird vermieden, die in jungen Jahren eingetrichterten Denkschemen abzuwerfen, ohne dabei sofort Schiffbruch zu erleiden. Jugendliche sympathisieren mit Havemann und Biermann.

Aber wem sollten sie sich sonst zuwenden?

Aus der Not wird eine Tugend gemacht. In einem eingeschränkten Angebot an politischen Verhaltensmöglichkeiten ist Havemann doch besser als Honecker. Angebote aus der liberalen Mitte fehlen völlig, und die Politik der Bundesrepublik Deutschland lehnt es wieder ab, zur moralischen Stütze im anderen Teil Deutschlands zu werden.

Eurokommunismus in der DDR ist das Produkt einer Begriffsmanipulation, die man aus Angst vor der gähnenden Leere sich nicht traut abzuwerfen. Am Beispiel des Eurokommunismus in der DDR ist eine Unterscheidung notwendig, Eurokommunisten sind DDR-Regimekritiker, daß heißt, sie kritisieren zwar grundsätzlich das Regime, bejahen aber die Theorien und Ideologien des Systems. Regimekritiker wollen keine demokratischen Verhältnisse, sondern nur das bestehende Regime ‚humanisieren‘. Kennzeichnend ist ihre enge politische Toleranz. Ihre Grenzen sind von der Ideologie bestimmt. Regimekritiker verstehen daher nicht, daß die Verhältnisse des Regimes im System begründet sind.

Anders ist die Sache bei den Regimegegnern. Sie gehen davon aus, daß die Bewußtseinsmanipulation, die Bespitzelung von politisch (Anders-)Denkenden, die totalitäre Durchsetzung der Interessen und sonstigen Weisungen der elitären Führungsschicht durch einen bürokratischen Partei- und Beamtenapparat nicht nur dem Regime angehören, sondern sich aus den Wurzeln des Systems selbst speisen. Kommunistische Gesellschaftstheorien, wenn sie in der DDR durchgesetzt werden sollen, lassen immer mehr oder weniger diktatorische Regime entstehen. Regimegegner also gehen davon aus, daß die Regime kommunistischer Art nicht durch äußere Reformen ‚humanisiert‘ werden können, sondern daß ethische gerechtfertigte Ordnungen nur dort entstehen und sich halten kennen, wo die Freiheit eines jeden nur beschränkt wird durch die gleiche Freiheit aller.

Die Normalität des Bürgers in der DDR ist die ‚geistige Republikflucht‘. Sämtliche Massenmedien berichten einseitig parteilich. Einige Ausnahmen bilden lediglich noch kirchliche Zeitungen. Aber auch hier machen sich die ‚Christen für den Sozialismus‘ bereit. Daher sind für die übergroße Mehrheit das westliche Fernsehen und andere Medien aus der Bundesrepublik die einzige Chance zu einer breiten und pluralistischen Information. Es wäre jedoch ein Irrtum zu meinen, diese Medien hätten die gleiche Wirkung, wie im Westen selbst. Nachrichten aus Deutschland und aus aller Welt werden zwar mit Interesse verfolgt und mit innerem Engagement beobachtet, aber es sind nicht die Alltagsprobleme in der DDR. Man läßt die westliche Welt wie in einem spannenden Filmen an sich vorüberziehen: erregend und zum Greifen nah und doch zugleich so unendlich fern.

Wenn ein Bewohner der DDR sich entschlossen hat, den Kommunismus in all seinen Ausformungen hinter sich zu lassen, und er sich damit beschäftigt, in den Westen zu gelangen, ändert sich die gefühlsmäßige Interessenlage merklich. Er wird sich plötzlich bewußt, daß die im Westen angeschnittenen Probleme auch seine eigenen berühren. Besonders viele Antragsteller beschäftigen sich mit einem Mal sehr intensiv mit innerdeutschen Problemen. Die deutsche Staatsbürgerschaft gewinnt einen besonderen Wert. Man wußte sich immer als Deutscher, aber war doch dabei ein Deutscher besonderer Art.

Noch nie wurden Westberliner oder Westdeutsche als Ausländer betrachtet. Aber erst jetzt beginnt der Gleichheitsgrundsatz zu wirken, ebenso Deutscher zu sein. Sonst wart ‚ihr‘ Deutsche und ‚wir‘ Deutsche, nunmehr sind ‚wir überhaupt‘ Deutsche. Die Gemüter in der DDR werden bei Veränderungen in Deutschland merklich mehr als vorher positiv oder negativ erregt. Und eines Tages bemerkten viele Antragsteller, daß sie geistig bereits im Westen leben und eigentlich nicht mehr bereit sind, mit dem totalitären DDR-Regime Kompromisse zu schließen. Der Bruch zur DDR sitzt zu tief.

Wer aber in der DDR weiterleben will, äußert zwar oft sein Unverständnis und seine Zweifel, äußert sich aber interessanterweise defensiv. Er meint, vor sich und anderen begründen zu müssen, weshalb er nicht den Sprung ins kalte Wasser wagt. Was sind seine Begründungen? Im wesentlichen verdeckte Angst vor dem unbekannten Neuen, das man nur aus der Ferne kennt. Er möchte in einer gewissen Geborgenheit und Ruhe bleiben. Man könnte ihn vielleicht als DDR-Konservativen bezeichnen. Das einzige, was er will, ist Geld verdienen, und nebenher verschafft er sich Luft in politischen Witzen. Seine Haltung ist von einer tiefen Skepsis geprägt.

In dieser Atmosphäre befindet sich ein Antragsteller in einer sozialen Isolierung. Die eigenen Erfahrungen werden nur noch im ‚gesamtdeutschen Bewußtsein‘ von DDR-Dissidenten mitteilbar. Hinzu kommen die täglichen Schikanen des Regimes: Zurückstufung im Beruf, Diskriminierung im Bildungswesen bis hin zu einem praktizierten Bildungsverbot, Kontrollen durch den ABV (Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei) und das Ministerium für Staatssicherheit.

Nachdem die Behörden den Freundes- und Bekanntenkreis herausbekommen haben, bestellen sie jeden einzelnen zur Volkspolizei oder zum Kaderleiter oder machen ihm auf andere Weise deutlich, daß es besser wäre, daß er den ‚für die Gesellschaft negativen Kontakt‘ abbrechen würde. Ansonsten müßte man über seine berufliche Stellung, sein Studium usw. noch einmal nachdenken.

Dem Antragsteller selbst wird offiziell die völlige Aussichtslosigkeit seines Vorhabens mitgeteilt: a) solch einen Antrag zu stellen, sei durch Gesetz nicht vorgesehen; b) der Antragsteller lege die Gesetze einseitig aus; Menschenrechte seien in Chile und Südafrika erst noch zu verwirklichen, nicht aber im Sozialismus, hier seien sie verwirklicht; c ) ein Übersiedlungsantrag sei deshalb rechtswidrig und müsse abgewiesen - nicht abgelehnt - werden; d ) neue Anträge werden nicht mehr bearbeitet und entgegengenommen. Es sei also sinnlos, neue Anträge zu stellen.

Der Antragsteller ist gezwungen, sich ein eigenes Wertsystem zu schaffen, oder er verfällt in Resignation. Mir dient die Beschäftigung mit der Philosophie Arthur Schopenhauers als Wehr gegen äußere Schikanen und zur Erleichterung der Bürde einer Isolation, einer fehlenden Geborgenheit. ‚Meine Philosophie hat mir nichts eingebracht, aber sie hat mich vor vielem bewahrt‘, sagte Schopenhauer über sich selbst. Diese Funktion hat sie auch heute in der DDR.

Seine Philosophie kann am besten begriffen werden, pro ich lebe. ‚Das Leben stellt sich dar als ein fortgesetzter Betrug, im kleinen wie im großen. Was es versprochen, so hält es nicht; es sei denn, um zu zeigen, wie wenig wünschenswert das Gewünschte war: So täuscht uns also bald die Hoffnung, bald das Gehoffte'. Dieser objektiv-pessimistische Standpunkt kommt der Wahrheit in der DDR näher und behält trotzdem für positive Überraschungen noch einen Platz frei.

Vielleicht ändert sich doch noch einmal etwas, und die blutige Grenze durch Deutschland wird unblutig durchschritten werden können. Meine Haltung bewahrt mich vor Luftschlössern und daher allzu tiefen Enttäuschungen. So mache ich mich darauf gefaßt, den Strafvollzug eines Regimes von innen kennenzulernen, denn es ist möglich, jeden Kritiker und jeden Antragsteller einzusperren. Ich will mich nicht einem System beugen, daß sich nur durch totalitäre Bewußtseinsmanipulation, durch Bespitzelung von (Anders-) Denkenden, durch Erpressung und Verleumdung an der Macht halten kann“.

 


Tipp 1:

Bude, Roland
Workuta : Strafe für politische Opposition in der SBZ/DDR / Roland Bude in Zsarb. mit Falco Werkentin. [Der Berliner Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der Ehemaligen DDR]. - 1. Aufl. - Berlin, 2010. - 108 S. : Ill.
ISBN 978-3-934085-32-9

Tipp 2:

Tautz, Lothar
Opposition und Widerstand in der mitteldeutschen Provinz / Lothar Tautz. Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der Ehemaligen DDR in Sachsen-Anhalt. - Magdeburg, 2004. - 160 S. : Ill.

Tipp 3:

Unter Hammer und Zirkel : Repression, Opposition und Widerstand an den Hochschulen der SBZ/DDR / Benjamin Schröder ... (Hrsg.). - Frankfurt am Main [u.a.] : Lang, 2011. - X, 432 S. : Ill.
ISBN 978-3-631-60523-3

Tipp 4:

Die deutsche Frage in der SBZ und DDR : Deutschlandpolitische Vorstellungen von Bevölkerung und Opposition 1945 - 1990 / hrsg. von Andreas H. Apelt ... Im Auftr. der Deutschen Gesellschaft e.V. ... - Berlin : Metropol, 2010. - 287 S.
ISBN 978-3-940938-60-2