Eine Woche nach der Verurteilung des Regime-Kritikers Rudolf Bahro zu acht Jahren Haft spricht die SED-Justiz am 7. Juli 1978 ein weiteres Terrorurteil: Nico Hübner wird vom Ersten Strafsenat des Ostberliner Stadtgerichtes zu fünf Jahren Haft verurteilt.

Er wird als „Krimineller“ bezeichnet. Ihm werden Verstöße gegen die Paragraphen 32 des DDR-Wehrpflichtgesetzes und 98 und 106 des DDR-Strafgesetzbuches zur Last gelegt. Ohne Kommentar berichtet am 8. Juli 1978 die Ost-Berliner Presse über den Prozeß. Das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ druckt, wie auch die übrigen in Ost-Berlin erscheinenden Zeitungen, auf der zweiten Seite eine am Vortage von der amtlichen DDR-Nachrichtenagentur ADN verbreitete Mitteilung über das Urteil. Darin wird erklärt, in der Hauptverhandlung sei nachgewiesen“ worden, daß „Hübner sich bewußt in die staatsfeindlichen Provokationen der in Westberlin etablierten Agentur der geheimdienstlich gesteuerten ,Gesellschaft für Menschenrechte e.V.‘ eingegliedert" habe. Weiter hieß es in der ADN-Meldung: „Auf der Grundlage der von der ,GfM‘ erhaltenen Instruktionen widersetzte sich der Angeklagte den Aufforderungen des zuständigen Wehrkreiskommandos zur Musterung sowie den dazu erforderlichen Tauglichkeitsuntersuchungen und Übermittelte auf Anweisung der Westberliner Agentur der ,GfM‘ Dokumente des Wehrkreiskommandos an seine Auftraggeber... In einem Gutachten wurde bestätigt, und durch Zeugenaussagen bekräftigt, daß es sich bei der ,GfM‘ um eine der von imperialistischen Geheimdiensten ins Leben gerufenen und gesteuerten Feindorganisationen handelt, die im System der subversiven Tätigkeit entspannungsfeindlicher Kräfte der BRD und Westberlins unter dem Deckmantel des ,Eintretens für Menschenrechte‘ den Kampf gegen die DDR und andere sozialistische Staaten führen.“

Die ADN-Meldung gipfelt in der Unterstellung, die GfM inspiriere „Bürger der DDR“ zur Begehung von Straftaten und anderen Rechtsverletzungen, Nico Hübner habe unter Anwendung konspirativer Mittel der GfM „verleumderische und diskriminierende Schriften“ gegen die staatlichen, politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR übermittelt und sei so aufgrund „seiner kriminellen Verhaltensweisen und staatsfeindlichen Haltung zur DDR zum willfährigen Werkzeug der Nachrichtendienste der BRD" geworden.

Wieviel Angst muß eigentlich dieses SED-Regime vor der Wahrheit über seine inneren Verhältnisse haben, wenn es sich des durchsichtigen Schauspiels abhängiger Richter bedient, um jene einzukerkern, die die Wahrheit beim Namen nennen und nichts anderes wollen, als die ihnen verbrieften Rechte in Anspruch zu nehmen Die haltlosen Behauptungen der SED-Justiz über die Arbeitsgruppe für Menschenrechte und der hier über Hübner ausgekippte Kübel von schlichtweg unwahrem Schmutz erscheinen denn Verfasser gänzlich für belanglos und außerhalb aller Rechtsordnungen zivilisierter Menschen stehend, um hierauf noch eingehen zu müssen.

Der Prozeß selbst vor dem Ost-Berliner Stadtgericht fand unter strengster Geheimhaltung und unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen durch den SSD statt. Sogar die als Zeugen geladenen früheren Arbeitskollegen Hübners hatten nicht gewußt, für welchen Termin sie vorgeladen werden sollten. Die schriftlichen Zeugenladungen waren kurzfristig erst vor Eröffnung der Hauptverhandlungsgen Nico Hübner am Dienstag, den 4. Juli 1978 ausgehändigt worden. Die früheren Arbeitskollegen des Wehrdienstverweigerers waren völlig Überrascht, als sie plötzlich in einen Gerichtssaal geführt wurden, wo sie vor dem Ersten Strafsenat des Stadtgerichtes gegen Hübner aussagen sollten.

Hei den geladenen und teilweise vom SSD „präparierten“ Zeugen handelte es sich vor allem um Kulissenarbeiter, Komparsen und Angestellte des Deutschen Theaters in Ost-Berlin, wo Nico Hübner zuletzt als Darsteller in kleinen Rollen gearbeitet hatte. In einem vom staatlichen Leiter des Theaters, Werner T., unterschriebenen Protokoll gab sich dieser als homosexueller Partner Hübners aus. Diese Aussage war unter offensichtlichem Druck des Staatssicherheitsdienstes zustandegekommen, damit die vormals inszenierte Rufmordkampagne gegen Hübner nun auch vor der SED-Justiz fortgesetzt und somit als rechtens erachtet werden sollte. Die Behauptung T. war schlicht erlogen. Jedem im Deutschen Theater war das schlechte Verhältnis von T. zu Hübner bekannt. Werner T. ist „Westreisender“ und hatte schon vorher Hübner aufgrund seiner politischen Haltung gedroht, ihn am Deutschen Theater nicht mehr zu beschäftigen. Der Versuch, Hübner in die kriminellen und homosexuelle Ecke zu drängen, sollte eine öffentliche Parteinahme für ihn erschweren.

Da trotz Einzelhaft und massiver Schikanen durch den SSD Hübner weder ein Schuldgeständnis (wessen sollte er sich auch schuldig erklären ?) abgelegt noch seine Auffassungen in der Untersuchungshaft widerrufen hatte, bediente sich die DDR-Führung im Stile Moskaus, das Dissidenten im allgemeinen als geisteskrank einstuft und in Heilanstalten einliefert, des schmutzigen Geschäftes der persönlichen Verunglimpfung.

Die Erweiterung der Anklage gegen Hübner von „Sammlung von Nachrichten“ (§ 98 des DDR-Strafgesetzbuches) und „Staatsfeindlicher Hetze“ (§ 106) auch auf die Strafbestimmungen nach § 32 des dortigen Wehrpflichtgesetzes kann überraschend, da die SED-Justiz diesen Punkt offensichtlich wegen alliierter Vorbehalte fallengelassen hatte. Die Anklageerhebung wurde nicht, wie es irrtümlich hieß (u.a. auch in der Bundestagsdebatte vom 22. Juni 1978), mit Staatsverleumdung begründet, sondern mit den o.g. Paragraphen. Unter „Staatsfeindlicher Hetze“ versteht die SED-Justiz jede kritische Äußerung über die tatsächlichen Verhältnisse in der Zone sowie freimütige Meinungsbekundungen, die von der offiziell verkündeten Auffassung der Staatspartei abweichen. Im einzelnen heißt es im § 106 des DDR-Strafgesetzbuches zur „Staatsfeindlichen Hetze“:

„Wer mit der Ziel, die sozialistische Staats- oder Gesellschaftsordnung der Deutschen Demokratischen Republik zu schädigen oder gegen sie aufzuwiegeln, Schriften, Gegenstände oder Symbole, die die staatlichen, politischen, ökonomischen aller anderen gesellschaftlichen Verhältnisse der Deutschen Demokratischen Republik diskriminieren, einführt, herstellt, verbreitet oder anbringt; Verbrechen gegen den Staat androht oder dazu auffordert, Widerstand gegen die sozialistische Staats- oder Gesellschaftsordnung der Deutschen Demokratischen Republik zu leisten; Repräsentanten oder andere Bürger der Deutschen Demokratischen Republik oder die Tätigkeit staatlicher oder gesellschaftlicher Organe und Einrichtungen diskriminiert; den Faschismus aller Militarismus verherrlicht, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren bestraft.“

Der § 98 gilt im DDR-Strafgesetzbuch nach Spionage als schweres Landesverratsdelikt. Nach ihm urteilt die DDR - wie auch im Falle Rudolf Bahro- insbesondere Regimekritiker ab, die sich bei ihrem Streben nach Wahrheit und in ihrem Kampf um die Menschenrechte auch an westliche Massenmedien gewandt haben. Er lautet: „(1) Wer Nachrichten, die geeignet sind, die gegen die Deutsche Demokratische Republik aller andere friedliebende Völker gerichtete Tätigkeit von Organisationen, Einrichtungen, Gruppen oder Personen zu unterstützen, für sie sammelt oder ihnen übermittelt, wird mit Freiheitsstrafe von zwei bis zu zwölf Jahren bestraft.

(2) Vorbereitung und Versuch sind strafbar.“

Schon angesichts dieser beiden Textauszüge des dortigen Strafgesetzes erhält man einen Eindruck von der inneren, Schwäche und Unsicherheit des SED-Regimes, das sich nur mit Strafandrohungen gegenüber seinen Bürgern aufrechterhält. Wer Meinungsfreiheit mit Zuchthaus „honoriert“, muß Angst vor seinen eigenen Bürgern haben. Das Staatswesen kann sich nur noch durch pure Machtmittel behaupten; eine Identität des Bürgers mit seinem Staat kann sich hier nicht bilden.

Schließlich heißt es des dann noch im § 32 des DDR-Wehrpflichtgesetzes: „ Wer vorsätzlich den Aufforderungen des Wehrkreiskommandos zur Erfassung oder Musterung aller oder Diensttauglichkeitsuntersuchung nicht oder nicht pünktlich Folge leitet... wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren aller mit Verurteilung auf Bewährung, Geldstrafe oder mit Öffentlichem Tadel bestraft.“

Die DDR hatte ihre Wehrgesetzgebung bereits am 10. Februar 1962 rechtswidrig auf den Ostsektor der entmilitarisierten Vier-Mächte-Stadt Berlin ausgedehnt. Die drei Westalliierten hatten wiederholt gegen die militärische Präsenz der Volksarmee in Ost-Berlin protestiert.

Nach dem hermetisch abgeschirmten Geheimprozeß gegen Hübner vom 4. bis 7. Juli 1978 waren sich politische Beobachter in Ost-Berlin einig, daß ein derartiges, den Status Berlin berührendes Urteil ohne eine Rückendeckung Moskaus nicht zustande gekommen wäre. Die kurzfristige Erweiterung der Anklage und Hübners Verurteilung vor des Besuch das Präsidenten der Vereinigten Staaten am 15. Juli 1978 in West-Berlin standen in einem offensichtlichen Zusammenhang mit einer verschärften politischen Gangart der SED-Führung und des sowjetischen Botschafters in Ost-Berlin, Abrassimow.

Die Urteilsbegründung des Stadtgerichtes zeigt eines sehr deutlich: Ost-Berlin war offensichtlich bemüht, die Realität des entmilitarisierten Status' von Groß-Berlin zu verschweigen und Hübner im wesentlichen andere „Straftaten“ zur Last zu legen. Scheinbar wollte man damit einen Konflikt mit den Westalliierten vermeiden. So rückte das Gericht auch die Wehrdienstverweigerung in den Hintergrund. Daß jedoch diese Art von Täuschungstatik fehlschlug, liegt auf der Hand. Hübner wurde de facto deshalb verurteilt, weil er etwas beanspruchte, was ihm rechtmäßigerweise auch zustand: nämlich das Recht, als Berliner Bürger nicht zum Wehrdienst herangezogen zu werden.

Zwar steht im Londoner Protokoll vom 12. September und vom 14. November 1944 über die Einrichtung von Besatzungszonen in Deutschland und die Verwaltung von Groß-Berlin nichts über die Entmilitarisierung von Berlin. Als Grundlage für die uneingeschränkte verbindliche Entmilitarisierung ganz Berlins gilt aber unter anderem nach wie vor das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945. Damals hatten die drei Hauptsiegermächte die völlige Abrüstung und Entmilitarisierung Deutschlands einschließlich Groß-Berlins beschlossen. Darüber hinaus ist im Kontrollratsgesetz Nr. 43 des Alliierten Kontrollrates vom 20. Dezember 1946 eindeutig festgelegt, daß das Gebiet von ganz Berlin frei von deutschen Militärpersonen bleiben muß. Dieses Gesetz trägt auch die Unterschrift der Sowjets.

Während sich die drei Westmächte und die Bundesrepublik Deutschland strikt an die völlige Entmilitarisierung Berlins gehalten haben - die soweit geht, daß kein Bürger in den drei Westsektoren Waffen (und nicht einmal Säbel) besitzen darf -, trifft dies allein schon wegen der ausgedehnten Wehrgesetzgebung auf die Sowjetunion und den Ostsektor der Stadt nicht zu.

In einem Schreiben der Alliierten Kommandantur vom 14. Mai 1949 über die Grundsätze der Beziehungen der „Stadt Groß-Berlin“ zu den Siegermächten, wird der entmilitarisierte Status ausdrücklich bekräftigt. Unter Punkt Zwei des Dokumentes heißt es: „Um die Verwirklichung der grundlegenden Ziele der Besetzung sicherzustellen, bleibt auf den folgenden Gebieten die Machtgewalt der Alliierten Kommandantur ausdrücklich vorbehalten einschließlich des Rechtes, seitens der Besatzungsbehörden benötigte Auskünfte und statistische Angaben anzufordern und zu überprüfen. (a) Die Abrüstung und Entmilitarisierung einschließlich der dazu in Beziehung stehenden Gebieten der wissenschaftlichen Forschung, Verbote und Beschränkungen der Industrie und der Zivilluftfahrt...“ Es ist somit gar schon untersagt, in Berlin Wehrmaterial herstellen zu lassen, geschweige denn Personen aus Berlin zum Wehrdienst einzuziehen. Und erst recht ist eine militärische Präsenz außer der der Alliierten untersagt, also auch die der NVA.

Die Sowjets haben außerdem bei der Bildung der „Provisorischen Regierung der DDR“ am 11. November 1949 ihre kommunistischen Genossen in Ost-Berlin zur Einhaltung der alliierten Beschlüsse verpflichtet. Anläßlich der Übertragung von Funktionen an die „Organe der DDR“ erklärte der Vorsitzende der sowjetischen Kontrollkommission für Deutschland, Tschuikow: Die sowjetische Kontrollkommission behalte sich das Recht vor, darauf zu achten, „daß keinerlei Maßnahmen getroffen werden, die den Beschlüssen der vier Mächte bezüglich der Entmilitarisierung und Demokratisierung sowie der Wiedergutmachung Deutschlands widersprechen”.

Angesichts der jetzigen Rechtsbrüche, leere Worte der Sowjets. Als es um Nico Hübner ging, wollten die Russen von ihrer eigenen Erklärung nichts mehr hören.

Als im Jahre 1952 die drei Westmächte ihre Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland neu ordneten, vertraten sie nochmals ihre Auffassung. In einer Anordnung der Alliierten Kommandantur vom 26. Mai 1952 (BKC/L (52) 7) heißt es: „Die Alliierten Behörden behalten das Recht, falls sie es für notwendig erachten, solche Maßnahmen zu ergreifen, die zur Erfüllung ihrer internationalen Verpflichtungen, zur Sicherung der Öffentlichen Ordnung und zur Erhaltung des Status` und der Sicherheit Berlins, seiner Wirtschaft, seines Handels und seiner Verbindungslinien notwendig sind“. An anderer Stelle die Dokumentes behalten sich die alliierten Behörden Machtbefugnisse unter anderem bei der „Abrüstung- und Entmilitarisierung“ vor. Im Vier-Mächte-Abkommen über ganz Berlin vom 3. September 1971 betonen die Alliierten, daß sie „handeln auf der Grundlage ihrer vierseitigen Rechte und Verantwortlichkeiten und der entsprechenden Vereinbarungen und Beschlüsse der vier Mächte aus der Kriegs- und Nachkriegszeit, die nicht berührt werden.“ Damit bestätigten die Sowjets noch im Jahre 1971 die Entmilitarisierung Groß-Berlins. Ihr Schweigen im Falle Nico Hübners macht sie mitschuldig an dessen widerrechtlichen Verhaftung und Verurteilung.

Der Viermächte-Status von Groß-Berlin und die gemeinsame Verantwortung der Siegermächte ist für Jedermann, noch heute an der turnusmäßig wechselnden Bewachung des Gefängnisses in Spandau und an den Fahrten von Militärpatrouillen in allen vier Sektoren der Stadt zu erkennen. Die Militärpräsenz der Nationalen Volksarmee im Ostsektor von Berlin ist und bleibt illegal. Und dies gilt erst recht für die Anwesenheit des Ost-Berliner „Stadtkommandanten“, Generalleutnant Kunath.

Über die Haft Hübners ist wenig bekannt geworden. Das Regime steckte ihn dorthin, wo es am schlimmsten wütet: In das berüchtigte Zuchthaus Bützow-Dreibergen im Bezirk Schwerin (Mecklenburg). Dort war es schon vorher wiederholt zu Gefangenenmißhandlungen gekommen. In dem 1894 erbauten Zuchthaus prügelten in den fünfziger Jahren Wachmannschaften mehrere politische Gefangene zu Tode. Das Zuchthaus ist hermetisch von der gesamten Außenwelt abgeriegelt. Erste Auskünfte über die Haftbedingungen erfuhr man erst im August 1979.

Doch schon im Oktober 1978 wurde ein zweiter Fall bekannt, bei dem ein junger DDR-Bürger wegen Kriegsdienstverweigerung in der Nationalen Volksarmee verhaftet wurde. lm thüringischen Bezirk Gera wurde ein junger Mann zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, weil er unter Hinweis auf Ausreisebemühungen in die Bundesrepublik den Wehrdienst verweigerte. Bereits 1976 hatte er zusammen mit seiner Verlobten einen Übersiedlungsantrag gestellt, der abgelehnt wurde. Beide wiederholten mehrmals die Anträge. Für den 4. Mai8 1978 erhielt dann der Mann, dessen Name aus den Meldungen nicht hervorgeht, eine Einberufung zur NVA. Nachdem er sofort seine Ablehnung und die Begründung vorgebracht hatte, erschien der Staatssicherheitsdienst am nächsten Morgen um 5.50 Uhr. Der junge Mann wurde verhaftet. Über sein weiteres Schicksal nach der Verurteilung ist nichts bekannt.

Im September 1978 bewiesen die bundesdeutschen Kommunisten ihre Linientreue zur DDR. In der am 15. September 1978 erschienenen Ausgabe der DKP-Zeitung „Unsere Zeit“ wird behauptet, der Vorsitzende der Arbeitsgruppe für Menschenrechte in Berlin, Wolfgang Mleczkowski, habe Nico Hübner beauftragt, in der DDD nachrichtendienstlich tätig zu werden. Daraufhin verklagt der Berliner Menschenrechtler die DKP vor dem Berliner Landgericht auf Widerruf und Schadensersatz.

Die Nachrichten über Nico Hübner werden nach dessen Verurteilung merklich spärlicher. Am 1. September 1978 fragt der Bundestagsabgeordnete Jäger den Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, was die Bundesregierung für Nico Hübner unternehmen will. „Es ist ihr Ziel, so die offizielle Antwort der Bundesregierung, „die vorzeitige Haftentlassung - möglichst in die Bundesrepublik Deutschland - zu erreichen“. Bereits am 10. Juli 1978 meldete DIE WELT, die Bundesregierung bemühe sich nachhaltig um einen Freikauf Hübners. Wie zuverlässig vonseiten des Innerdeutschen Ministeriums zu erfahren gewesen sei, hätten erste Kontakte mit der DDR-Seite schon vor der Verurteilung Hübners jedoch ergeben, daß nicht mit einer umgehenden „Abschiebung“ des Wehrdienstverweigerers zu rechnen sei. Ganz offenkundig wolle die DDR, so hieß es, zunächst einmal ihren „souveränen“ Machtanspruch demonstrieren und Nachahmungs-„Täter“ abschrecken. Der Fall Nico Hübner ist nochmals Gegenstand der Beratungen des Deutschen Bundestages am 7. Dezember 1978. „Ich bringe die gemeinsame Überzeugung der Mitglieder des Deutschen Bundestages zum Ausdruck“, so Parlamentspräsident und heutiger Bundespräsident Prof. Karl Carstens vor Eintritt in die Tagesordnung, „das das Urteil gegen Nico Hübner des Rechtsempfinden widerspricht. Der Deutsche Bundestag appelliert an die Verantwortlichen, Nico Hübner freizulassen. Die Bundesregierung wird aufgefordert, das in ihren Kräften Stehende zu tun, um die Freilassung von Nico Hübner zu erwirken“.

Aber nicht nur das Parlament beschäftigt sich mit dem Schicksal des jungen Deutschen. Überall in der Bundesrepublik werden Tausende von Unterschriften gesammelt, mit denen sich Bürger des freien Deutschlands für ihren inhaftierten Landmann einsetzen. Bei der alljährlich von der Zeitung WELT am SONNTAG durchgeführten Wahl des „Deutschen des Jahres“ wählen die Leser Nico Hübner auf Platz zwei. „Er wird seine Wahl zum 'Deutschen des Jahres' bis auf unbestimmte Zeit gewiß gar nicht erfahren“, schreibt Matthias Walden am sonntäglichen Heiligabend 1978. „Denn er lebt hinter Gittern, eine eiserne Gefängnistür trennt ihn von uns: Nico Hübner, der den Wehrdienst in der SED-Armee verweigerte, weil er Christ ist und Deutscher und weil er nicht ,DDR‘- Bürger und Waffenträger einer Truppe sein will, zu deren Aufgaben es gehört, fliehende Landsleute wie jagdbares Wild zu erlegen“.

Der 27. Bundesparteitag der CDU 1979 in Kiel nimmt einstimmig einen vom Bundesvorsitzenden der Jungen Union, Matthias Wissmann gestellten Antrag an und stellt darin fest: „Nicht er ist es (Nico Hübner, d,Verf.), der sich ins Unrecht gesetzt hat, sondern das DDR-Regime“.

Auch die 1979 neu eingerichtete KSZE-Klagestelle des Aktionskomitees für die europäische Helsinki-Gruppe beschäftigt sich im April 1979 mit dem Fall Hübner. Aufgabe der Klagestelle, die sich aus international namhaften Juristen zusammensetzt, ist es, Beschwerden von Gruppen und Einzelpersonen aus den 35 Unterzeichner-Staaten der KSZE entgegenzunehmen und zu prüfen. Vermutet die KSZE-Klagestelle eine Verletzung international anerkannter Rechtssätze oder verbindlicher internationaler oder nationaler Rechtsnormen, wird der beklagte Staat zur Stellungnahme eingeladen.

Damit ist erstmals eine Instanz vorhanden, die auf gesamteuropäischer Ebene Individualklagen annimmt und dem einzelnen Bürger die Möglichkeit einräumt, gegen Menschenrechtsverletzungen vorzugehen. Bisher war das nur für des westeuropäischen Bereich möglich. Bürger aus den Mitgliedstaaten des Europarates konnten die Europäische Menschenrechtskommission in Straßburg anrufen. Für Bürger aus kommunistisch regierten Staaten Ost- und Mitteleuropas war das unmöglich.

Nunmehr sind auch Personen und Gruppen aus diesem Bereich klageberechtigt. Sie können sich durch beauftragte Stellvertreter in anderen Staaten vertreten lassen. Für den Bereich der DDR nimmt die Arbeitsgruppe für Menschenrechte die Beschwerden entgegen und übermittelt sie nach einer Vorbearbeitung der KSZE-Klagestelle. So hat die Arbeitsgruppe auch die Vertretung Nico Hübners übernommen.

In Abwesenheit wird Nico Hübner am 30. Juni 1979 in München mit der Verleihung des Konrad-Adenauer-Preises 1979 geehrt. Staatsminister Prof. Hans Maier nimmt für Hübner die Urkunde und die damit verbundene Ehrengabe von 10.000 DM treuhänderisch entgegen mit dem Auftrag, den Bayerischen Ministerpräsidenten zu bitten, beides Nico Hübner zu überreichen, sobald er wieder in Freiheit ist. In der Laudatio auf Hübner heißt es (vollständig abgedruckt im Anhang): „Nico Hübner wurde zum Symbol des Freiheitskampfes der riesigen Mehrheit der Deutschen im ,Gulag DDR'. Sein Schicksal, sein Leidensweg steht stellvertretend für alle ,drüben', die auf den Tag hoffen, an dem auch für sie die Worte aus dem Lied der Deutschen Wirklichkeit werden: Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland“.

Erst im August 1979 erfährt die Weltöffentlichkeit von den Haftbedingungen, denen Hübner im Gefängnis Bützow-Dreibergen ausgesetzt ist. Wie der ehemalige politische Häftling in der DDR Detlef Grund (26) am 3. August 1979 berichtet, sitzen in dem Zuchthaus ca. 1100 Häftlinge, vorwiegend Kriminelle. Bützow-Dreibergen ist in 18 Bereiche gegliedert. Wie Grund sagte, haben diese Bereiche keinerlei Kontakte miteinander. Alle zwei Monate kommen die Isolier- und Absonderungsgefangenen im B-Flügel des dreiflügeligen Zuchthauses in andere Zellen, damit unter den Gefangenen jegliche Möglichkeit einer Aufnahme von Verbindungen unmöglich gemacht wird. Wer auf die „Absonderung“ kommt, so Grund weiter, „ist für andere Gefangene spurlos verschwunden. Der Isolationsteil gleicht einem Grab: Wir hatten nicht gewußt, wieviel Gefangene dort sind. Von Nico Hübner haben wir nie etwas erfahren“.

Über das weitere Schicksal Nico Hübners jenseits des eisernen Vorhangs beginnt hier von Neuem eine große Stille.



Tipp 1:

Homann, Ulrike
Herausforderungen an den Rechtsstaat durch Justizunrecht : die Urteile bundesdeutscher Gerichte zur strafrechtlichen Aufarbeitung von NS- und DDR-Justizverbrechen / Ulrike Homann. - Berlin : Berlin-Verl. Spitz, 2003. - 237 S.
ISBN 3-8305-0365-2

Tipp 2:

Wolff, Friedrich
Einigkeit und Recht : die DDR und die deutsche Justiz ; Politik und Justiz vom Schießbefehl Friedrich Wilhelms IV. bis zum "Schießbefehl" Erich Honeckers / Friedrich Wolff. - 2., korr. Aufl. - Berlin : edition ost, 2005. - 191 S. ; 21 cm, 230 gr. - Angaben zum Inhalt: EINIGKEIT UND VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG. - Angaben zum Inhalt: RÜCKBLICK UND ERINNERUNG AN DEN GESCHICHTSUNTERRICHT: Das deutsche Biedermeier und die Demagogenverfolgung; Einer von 204. Der Fall Fritz Reuter; Die Revolutionsjahre 1848-1849; Die Periode der Reaktion 1850-1871; Recht und Freiheit im Kaiserreich; Recht und Freiheit in der Weimarer Republik; Kommunistenverfolgung in der Nazizeit.. - Angaben zum Inhalt: POLITISCHE JUSTIZ NACH DEM II. WELTKRIEG: Verfolgung der Nazi- und Kriegsverbrecher in der BRD; Kommunistenverfolgung in der BRD 1949-1968; Die juristische Auseinandersetzung in der BRD mit der DDR von 1949-1989; BRD-Justiz gegen die RAF.. - Angaben zum Inhalt: DIE JURISTISCHE VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG NACH DEM 3. OKTOBER 1990: Die strafrechtliche Vergangenheitsbewältigung: Vorbereitung und Anfang, Die  Suche nach den Untaten, Ergebnis der strafrechtlichen Vergangenheitsbewältigung, Die Folgen der strafrechtlichen Verfolgung für die Betroffenen. Die Rechtsprobleme bei der Verfolgung des DDR-Unrechts: Rückwirkungsverbot, Schuldnachweis Schuld, Staatenimmunität, Kausalität, DDR-Amnestien, Verjährung. Das Urteil der Professoren; Zur Unabhängigkeit der Justiz und zur Stellung der Richter in der BRD; Juristische Vergangenheitsbewältigung außerhalb des Strafrechts: Die Änderung der Gerichtsverfassung, Die Bewältigung "offener Vermögensfragen" mittels des Zivilrechts, Die Flut der Gesetze zu den offenen Vermögensfragen, Die politische Säuberung des öffentlichen Dienstes durch die Verwaltungsgerichte, Vergangenheitsbewältigung mittels des Arbeitsrechts, Vergangenheitsbewältigung mittels des Sozialrechts.. - Angaben zum Inhalt: POLITISCHE JUSTIZ DER DDR: Politische Justiz der DDR gegen Nazis; Politische Justiz gegen DDR-Oppositionelle; Umfang der politischen Justiz in der DDR; Gesetze gegen politische Delikte in der DDR; Erscheinungsformen politischer Delikte in der DDR; Stellung der Justiz und der Juristen in der DDR; Rückblick mit Ausblick.
ISBN 3-360-01062-0