Treffpunkt: Bahnhof Hermsdorf, Hermsdorf, Berlin.
Kamera, Ton & Edit: © Ralf Gründer, Berlin (17.08.2024)
Dokumentation: © Ralf Gründer, DDT - Das freie Dokumentarfilm-Team, Berlin

Segment 2: Vom Vom Checkpoint Qualitz weiter auf dem Mauerradweg, vorbei am Märkischen Viertel parallel zu den Gleisen der Heidekrautbahn, vorbei an ehemals VEB Bergmann-Borsig (wo der "Antifaschistische Schutzwall" nur ca. 8 Meter breit war), vorbei an den Resten der Mauer der 'ersten' Generation (mit Stacheldraht bewerte Y-Abweiser im Bereich des S-Bhfs. Schönholz), vorbei an den SED-Mordopfern Horst Frank, Silvio Proksch und Michael Horst Schmidt (für die es keine Stelen gibt) bis zum S-Bhf. Wollankstraße, wo es lt. der SED-Propaganda einen Spionagetunnel gegeben haben soll.



Tipp 1: Spionage-Tunnel (ein Film der DEFA?)

Tipp 2: Treffpunkt Berlin: Bahnhof Schönholz (LINK)

 

Anmerkung 1: Horst Frank (†29.04.1962)

Fall 3 (Horst Frank)

Einzelfälle des Schußwaffengebrauchs vom 15. Oktober 1961 bis zum 5. Februar 1989 (Fälle l bis 38)

Der am 7. Mai 1942 geborene Gärtner Horst Frank sowie der am 21. April 1945 geborene Maurer Detlef Wirth verabredeten für den 28. April 1962 ihre Flucht nach Berlin (West). Mit dem Bus fuhren beide am Abend des genannten Tages nach Schönholz. Nördlich der Klemkestraße durchquerten sie kurz nach 20.00 Uhr eine Laubenkolonie und gelangten zu einem Feld mit freier Sicht nach Berlin (West). Im Bereich Vereinssteg / Neuer Steg durchschnitten sie mit einer Drahtschere das erste Sperrelement, krochen hindurch und robbten über das ca. 80 m breite Feld zum Stacheldraht. Zunächst ließen sie sich vor dem Stacheldraht in den Laufgraben fallen und warteten ca. eine Viertelstunde. Alsdann versuchten sie das letzte Sperrelement zu überwinden. Dabei wurde zumindest Horst Frank durch die eingesetzten Grenzposten, die Zeugen Lothar Fietz und Günter Grewe bemerkt. Nach Abgabe eines Zielschusses durch den Zeugen Fietz gaben, als Horst Frank seinen Fluchtversuch offensichtlich fortsetzte, die Zeugen Günter Grewe 4 und Rolf Kahre 2 gezielte Schüsse ab.

Horst Frank blieb schwerverletzt zwischen dem 2. und 3. Grenzzaun liegen. Dem Zeugen Detlef Wirth war zwischenzeitlich die Flucht gelungen.

Horst Frank wurde dem Krankenhaus der Deutschen Volkpolizei zugeführt, wo er bei einer Notoperation infolge des erlittenen Bauch- bzw. Brusthöhlendurchschusses mit Darm- und Lungenverletzung am 29. April 1962 um 03.30 Uhr verstarb.

Bl. 46-51

Die Zeugen Fietz, Grewe und Kahre wurden für ihr Verhalten belobigt.
---------------------------------------------------------------------------------------------------
Quelle: Schwurgerichtsanklage 2 Js 26/90, Seite 585/6


Anmerkung 2
:
Silvio Proksch (†25.12.1983)

(Auszug aus der Schwurgerichtsanklage 2 JS 26/90) 

Fall 11 (Silvio Proksch)

Seite 253

a) Befehl Nr. 101/83
Unterzeichner: Minister für Nationale Verteidigung Hoffmann
Geltungsdauer: 1. Dezember 1983 bis 30. November 1984

In dem genannten Befehl heißt es u.a.:

. . .
3. Sicherung der Staatsgrenze

(1) Die Sicherung der Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik ist unter allen Lagebedingung zuverlässig zu gewährleisten.

(2) • • •

Grenzdurchbrüche sowie die Ausdehnung von Grenzprovokationen und bewaffneten Überfällen auf das Hoheitsgebiet der DDR sind nicht zu zulassen.

(3) • • •
An der Staatsgrenze der DDR zur BRD sind

- die Rekonstruktion der Grenzsicherungsanlagen, einschließlich der in der Tiefe des Handlungsraumes zu errichtenden Sperr- und Signalanlagen,

die Errichtung der Grenzsignalzaunanlage 80 und das Räumen und Neuanlegen von Erdminensperren

Seite 254

unter Berücksichtigung des Zustandes der vorhandenen Anlagen, insbesondere in den wahrscheinlichen Bewegungsrichtungen der Grenzverletzer, planmäßig weiterzuführen."


b) Anordnung Nr. 80/83 des StMCGT
Unterzeichner: Baumgarten

An der Erstellung u.a. beteiligt: Leonhardt mit Hilfe seines Stellvertreters Teichmann, Lorenz, Gabriel und Thieme
Geltungsdauer: 1. Dezember 1983 bis 30. November 1980


Beistück IId

In der genannten Anordnung heißt es
u. a. :

"1. (1) Die Verbände, Truppenteile und Einheiten haben unter den Bedingungen einer gefährlichen Zuspitzung der internationalen Lage die zuverlässige Sicherung der Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik zur BRD und zu Berlin (West) ununterbrochen zu gewährleisten.

Grenzdurchbrüche sowie die Ausdehnung von Grenzprovokationen und bewaffneten Überfällen auf das Hoheitsgebiet der Deutschen Demokratischen Republik sind nicht zuzulassen."

• • •

"3. Sicherung der Staatsgrenze

(1) Die Sicherung der Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik ist den Lagebedingungen entsprechend variabel und zuverlässig unter.Ausnutzung der pionier- und signaltechnischen Anlagen sowie der zum Einsatz kommenden Mittel zu organisieren und zu führen."

Seite 255

• • •

"5.2. Die Montage der Grenzsignalzaunanlage 80 in den festgelegten Grenzabschnitten der Grenzregimenter 42 und 35 ist allseitig vorzubereiten und planmäßig durchzuführen.

Die Anzahl der Fehlauslösungen an Grenzsignalzaunanlagen ist spürbar zu senken."

Fallakte Proksch,

Bd. I, Fach 1, Bl. 7-13


Beistück IVe
• • •

"6.1. Der Kommandeur des Grenzkom mandos Mitte hat die Hauptanstren gungen zu richten auf:

(1) Die Sicherung der Richtungen Alexanderplatz, Ackerstr., Plänterwald, Dammweg, Ostbahnhof ! Bethanien-Krankenhaus;

(2) Die Verbesserung der Zusammenarbeit mit den Leitern der Betriebe und Einrichtungen im Grenzgebiet zur Gewährleistung einer hohen Sicherheit und Ordnung insbesondere in den Objekten
Charite,

VEB Bergmann Borsig, Bahnhof Schönefeld, Klein Glienicke,
S-Bahnbogen Hohen Neuendorf;

(3) Die Erhöhung der Wirksamkeit und Stabilität der Grenzsicherung, insbesondere der Grenzregimenter 33, 35 und 44."


c) Befehl Nr. 40/83 des Kommandeurs des Grenzkommandos Mitte
Unterzeichner: Generalmajor Wöllner
Geltungsdauer: 1. Dezember 1983 bis 30. November 1984

Seite 256

"Zur Erfüllung der Anordnung Nr. 80/83 des Stellvertreters des Ministers und Chef der Grenztruppen im Grenzkommando Mitte für das Ausbildungsjahr 1983/84 gestellten Aufgaben

befehle ich:

1. (1) Das Grenzkommando Mitte hat unter den Bedingungen einer gefährlichen Zuspitzung der internationalen Lage die zuverlässige Sicherung der Staatsgrenze der DDR zu Berlin (West) ununterbrochen zu gewährleisten, Grenzdurchbrüche und die Ausdehnung von Provokationen auf das Hoheitsgebiet der DDR nicht zuzulassen sowie die Sicherheit und Ordnung im Grenzgebiet im Zusammenhang mit den anderen Schutz- und Sicherheitsorganen und in der Zusammenarbeit mit den Partei- und Staatsorganen, den gesellschaftlichen Organisationen und der Bevölkerung im Grenzgebiet in der Verwirklichung der Forderungen der Direktive des Sekretariats des Zentralkomitees der SED, des Grenzgesetzes und seiner Folgebestimmungen durchzusetzen.
• • •

(3) die Führungstätigkeit meiner Stellvertreter des Chefs Artillerie und der Leiter, der Kommandeure und Führungsorgane der Truppenteile und Einheiten ist zu konzentrieren auf:
• • •

- die Erhöhung der Wirksamkeit und Stabilität der Grenzsicherung, insbesondere der in der Hauptanstrengung liegenden Grenzregimenter 33 und 35, die Erhaltung einer hohen Wirksamkeit der Grenzsicherung im Regiment 44 ...

2. Aufgaben zur Grenzsicherung
• • •

(3) Die Wirksamkeit der Grenzsicherung ist zu stabilisieren bzw. zu erhöhen durch:

Seite 257

• • •

- die qualifizierte politische und militärische Vorbereitung auf den Grenzdienst, die ununterbrochene Führung aller zur Grenzsicherung eingesetzten Kräfte, die konsequente Auslösung von Einsatzvarianten bei allen Anzeigen einer Grenzverletzung und die zeiterechte und wahrheitsgetreue Erstattung von Meldungen; ...

(18) Schwerpunktzeiten
? Versuche des Grenzdurchbruchs:
Donnerstag, Freitag, Sonnabend jeweils 22.00 Uhr bis 02.00 Uhr;
• • •
(19) Für die Zeiträume
? 24. Dezember 1983, 06.00 Uhr bis
27. Dezember 1983, 06.00 Uhr
• • •

sind durch die Kommandeure der Truppenteile Festlegungen zu tref fen für

? die Erhöhung der Führungsbereitschaft, der Führungsorgane;
? die stabsmäßige Vorbereitung des Überganges zur verstärkten Grenzsicherung;
? die Bereitstellung von Reservisten, Instandsetzungs- und Bergekräften;
? die Erhöhung der Sicherheit der Kasernen und Einrichtungen;
? die Gewährleistung einer wirksamen Hilfe und Anleitung der unterstellten bei der Erfüllung der befohlenen Aufgaben.

• • •

3. Aufgaben der Truppenteile

3.1. Das Grenzregiment 33, eingesetzt im Raum der Hauptanstrengung, sichert den Grenzabschnitt Friedhof Rosenthal, Brandenburger (Seite 258) Tor l richtet seine Hauptanstrengung auf die Abwehr von Versuchen des Grenzdurchbruches in den wahrscheinlichen Richtungen der Bewegung der Grenzverletzer

• • •

Der Kommandeur hat seine Anstrengungen zusätzlich zu konzentrieren auf

Beistück XIb
• • •
• die weitere Erhöhung der Sicherheit und Ordnung im Streckenabschnitt der Deutschen Reichsbahn, Pankow, Schönhauser Alle in enger Zusammenarbeit mit den Kräften der Deutschen Reichsbahn zur Schaffung der günstigsten Voraussetzungen für die Handlungen der Grenzposten in diesem Abschnitt;
? • • "

d) Befehl Nr. 20/83 des Kommandeurs des Grenzregiments 33
Unterzeichner: Oberst Leo
Geltungsdauer: 1. Dezember 1983 bis 31. Mai 1984

In dem genannten Befehl heißt es u.a.:

"1. 3. Zur Erfüllung der dem Grenzregiment 33 im Befehl Nr. 40/83 des Kommandeurs Grenzkommando Mitte gestellten Aufgaben
befehle ich

das Grenzregiment 33 mit einem Grenzsicherungsboot des Grenzregiments 35, eingesetzt im Raum der Hauptanstrengung des Grenzkommandos Mitte, sichert den Grenzabschnitt Friedhof Rosenthal, Brandenburger Tor in der normalen Grenzsicherung im 32-Stunden-Dienstrhythmus mit variabler Dienstzeit von 6 bis 10 (Seite 259) Stunden, in Bereitschaft, bei Eintreten besonderer Lagen auf Befehl oder meinen Entschluß zu einer an deren Art der Grenzsicherung überzugehen, mit der Aufgabe:

- unter den Bedingungen einer gefährlichen Zuspitzung der internationalen Lage die zuverlässige Sicherung der Staatsgrenze der DDR zu Berlin (West) ununterbrochen zu gewährleisten, Grenzdurchbrüche und die Ausdehnung von Provokationen auf das Hoheitsgebiet der DDR nicht zuzulassen sowie die Sicherheit und Ordnung im Grenzgebiet im Zusammenwirken mit den anderen Schutz und Sicherheitsorganen und in Zusammenarbeit mit den Partei- und Staatsorganen, den gesellschaftlichen Organisationen und der Bevölkerung im Grenzgebiet in Verwirklichung der Forderungen der Direktive des Sekretariats des Zentralkomitees der SED, des Grenzgesetzes und seiner Folgebestimmungen durchzusetzen;
. . .

(1) Die zuverlässige Sicherung der Staatsgrenze in den Zeiträumen
- 24. Dezember 1983, 06.00 Uhr bis 27. Dezember 1983, 06.00 Uhr

• • •
ist auf der Grundlage gesonderter Befehle zu planen, insbesondere durch:

• die Erhöhung der Führungsbereitschaft im Grenzregiment;
• die stabsmäßige Vorbereitung des Überganges zur verstärkten Grenzsicherung;
• die Bereitstellung von Reserven, Instandsetzungs- und Bergekräften;

Seite 260

? die Erhöhung der Sicherheit de? Kaserne, Lager und Einrichtungen;
? die Gewährleistung einer wirksa men Hilfe und Anleitung der unterstellten bei der Erfüllung der befohlenen Aufgaben."

e) Am 25. Dezember 1983 hielt sich der am 3. Januar 1962 geborene Maurer Silvio Proksch in der elterlichen Wohnung in der Florastraße 13 in Berlin-Pankow auf. Bereits am Weihnachtstag wurde viel getrunken. Am darauffolgenden Tag nahm er gemeinsam mit seinem Bruder Carlo Proksch eine nicht mehr genau feststellbare Menge Alkohol zu sich. Gegen 19.00 Uhr kam er spontan auf die Idee, in den Westen zu fliehen. Er äußerte, "es kotze ihn alles an, er wolle seine Freiheit haben".

Um sein Fluchtvorhaben in die Tat umzusetzen, begab er sich von der Wilhelm-Kuhr-Straße in den Bürgerpark. In seiner Begleitung befand sich sein Bruder, der vergeblich versuchte, ihn von seinen Fluchtplänen abzubringen. Er durchquerte den Park und gelangte bis zur Leonhard-Frank-Straße. Im Bereich des dortigen Friedhofs wurde die Straße von einem Zaun versperrt. An diesem Punkt blieb sein Bruder zurück. Silvio Proksch überstieg den 1 1/2 m hohen Zaun und gelangte nach Überwindung der Hinterlandmauer in den Bereich der Grenzanlagen. Dort löste er akustischen Alarm aus. Unmittelbar (Seite 261) darauf verließ ein bisher nicht ermittelter Posten, der zusammen mit dem anderweitig verfolgten Zeugen Steffen Scholz eingesetzt worden war, - wie vorgeschrieben - den Beobachtungsturm und lief in Richtung Grenzmauer. Der Zeuge Scholz ergriff seine Waffe, eine Kalaschnikow, Kaliber 7,62 mm, und orientierte sich, in welchem Feld genau Alarm ausgelöst worden war. Er er kannte Silvio Proksch am Stacheldrahtzaun, zerschlug ein Fenster des Turmes und rief: "Halt, stehenbleiben". Der Flüchtende sprang auf den Weg und rannte in Richtung Hundetrasse, wo er von einem Hund zunächst gestellt wurde. Der Hund lief weg, als Scholz einen Warnschuß, auf den Boden zielend, abgab. Sivio Proksch setzte seine Flucht fort. Scholz umfaßte seine Waffe fest am Lauf, stellte diese auf Einzelfeuer und gab von seinem Beobachtungsturm aus einer Entfernung von 60 - 100 m 7 gezielte Schüsse auf Silvio Proksch ab. Zwar zielte er dabei auf die Beine des Flüchtenden. Ein genaues Zielen war jedoch insbesondere wegen der Dunkelheit nicht möglich. Anschließend verließ Scholz den Turm, um Proksch ggf. hinter einem Pumpenhaus noch vor der Mauer stellen zu können. Als er zu dem Flüchtling gelangte, kniete dieser am Boden und kippte im selben Moment nach vorn (Seite 262) über. Scholz stellte eine starke Blutung am rechten Oberschenkel fest. Erste Hilfe-Maßnahmen leitete er nicht ein.

Nach einigen Minuten traf ein ziviler Krankenwagen aus dem Polizeikrankenhaus ein, der jedoch von der Führungsstelle zurückgewiesen wurde. Der Krankenwagen des Grenzregiments wurde, da die Einlaßvorschriften nicht genau eingehalten waren, gleichfalls zurück gewiesen. Der Abtransport des schwer verletzten Silvio Proksch erfolgte erst 30 - 40 Minuten nach Abgabe der Schüsse.

Auf dem Transport in das VP-Krankenhaus erlag Silvio Proksch seinen Verletzungen. Er wurde um 21.05 Uhr tot ins Krankenhaus eingeliefert.

Die am 2. Januar 1984 erfolgte Leichenöffnung erbrachte als Befund:

"Todesursache:

Zerreißung der rechten Hüftschlagader, Zerreißung der rechten Schenkelvene."

Nach dem Ereignis wurde von den mit der Untersuchung betrauten Dienststellen versucht, die Tötung im Zusammen hang mit einem Fluchtversuch zu vertu- (Seite 263) sehen. So wurden u.a. die Obduzenten über den Tatort getäuscht. Das Bemühen ging dahin, die Identität des Erschossenen zu verschleiern.

Hinsichtlich des Einsatzes der Schußwaffe wurde dem Zeugen Scholz in seiner Ausbildung die Vorschrift des Grenzgesetzes dargelegt. Die entsprechende Bestimmung war auswendig zu lernen. Das Problem des Schußwaffeneinsatzes wurde ständig erörtert. Den Soldaten wurde generell gesagt, daß es nicht tragisch sei, im Fall der Grenzverletzung von der Schußwaffe Gebrauch zu machen. Zwar sollte nur auf die Beine gezielt geschossen werden. Sollte es dennoch zu schwereren oder sogar tödlichen Verletzungen kommen, hätte dies für die Grenzsoldaten nach den Bekundungen der vorgesetzten keinerlei Folgen gehabt, da es sich ja insoweit um das Risiko der flüchtenden Personen gehandelt habe. Einmal wöchentlich war während der Ausbildung ein Tag für politische Agitation vorgesehen. Hier bei wurde ständig auf das "Feindbild" hingewiesen. Dabei wurden Grenzflüchtlinge als Staatsfeinde dargestellt. Die Soldaten wurden auf diesen Feind "scharf" gemacht.

Im Juli 1982 wurde der Zeuge Scholz zu den Grenztruppen einberufen. Während der ersten 6 Wochen der Grundausbildung wurde er mit der Maschinenpisto- (Seite 264) le Kalaschnikow vertraut gemacht. Bei Schießübung wurde jeweils auf Blechscheiben gezielt, auf denen liegende oder knieende Schützen bzw. Maschinen gewehrschützen abgebildet waren. Außerdem fand ein Nachtschießen statt, bei dem die Ziele durch kleine Leuchten markiert waren. Die Ziele waren jeweils zwischen 100 - 150 m entfernt. Während der Grundausbildung wurde insgesamt 10 mal mit der Maschinenpistole ein Übungsschießen durchgeführt. Hierbei wurde prinzipiell Einzelfeuer geschossen. Im Grenzdienst wurde auch geübt, wie sich Grenzsoldaten bei Grenzzwischenfällen zu verhalten haben. Nach den dort erteilten Befehlen war von der Schußwaffe gezielt Gebrauch zu machen, wenn sich der Grenzverletzer nicht freiwillig stellte. Dies galt jedoch ausschließlich für Personen, die die Grenzanlagen von Ost nach West überwinden wollten.

Einige Tage nach dem Vorfall wurde der Zeuge Scholz gemeinsam mit seinem nicht mehr zu ermittelnden Posten wegen vorbildlicher Handlung ausgezeichnet. Er erhielt die Verdienstmedaille der Grenztruppen in Bronze sowie eine Urkunde. Sein Posten, der nicht geschossen hatte, erhielt eine Medaille nebst Urkunde wegen vorbildlichen Grenzdienstes. Zudem wurden Geldprämien in Höhe von 250,-- bzw. 200,-- M (Seite 265) ausgezahlt. Die Auszeichnungen fanden im Offiziersspeisesaal unter Anwesenheit zahlreicher Regimentsmitglieder statt.

Am 25. Dezember 1983 meldete der Angeschuldigte Leonhardt den Vorfall dem Minister für Nationale Verteidigung sowie dem Stellvertreter des Ministers und Chef des Hauptstabes.

Die Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht Berlin hat am 2. November 1991 gegen den Zeugen Steffen Michael Scholz Anklage wegen Totschlags erhoben.

Durch Urteil des vom 3. Juli 1992 Landgerichts Berlin wurde gegen Scholz wegen Totschlags eine Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 9 Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, verhängt.

Auf die Revision des Angeklagten hat der Bundesgerichtshof am 19. April 1993 das Urteil des Landgerichts Berlin nach § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. (Seite 266) Der Bundesgerichtshof hat es als rechtsfehlerhaft angesehen, daß ein Zeuge, der der Tatbeteiligung verdächtig war, vereidigt worden ist.

Quelle: 2 JS 26/90 - Schwurgerichtsanklage, Seite 253-266

 

Anmerkung 3: Michael Horst Schmidt (†01.12.1984)

(Auszug aus der Schwurgerichtsanklage 2 JS 26/90) 

Fall 15 (Michael-Horst Schmidt)


a) Befehl Nr. 101/84 Unterzeichner: Minister Verteidigung Hoffmann


Geltungsdauer: 1. Dezember 1984 bis 30. November 1985

Seite 279

In dem genannten Befehl heißt es u.a.:

"3 Schutz der Staatsgrenze
(1)
Die Anstrengungen zur Verhinderung von Grenzdurchbrüchen sind entscheidend zu verstärken.

• • •

(2) An der Staatsgrenze zur BRD ist die Einführung des neuen Systems der Grenzsicherung abzuschließen. Der Übergang weiterer Grenzregimenter zum neuen Grenzsicherungssystem sowie die entsprechende Umformierung von Führungsorganen und Einheiten sind gründlich vorzubereiten und bei ununterbrochener Aufrechterhaltung eines hohen Standes der Gefechtsbereitschaft, der Wirksamkeit der Grenzsicherung sowie der Sicherheit an der Staatsgrenze durchzuführen.
Die Führungsorgane und Einheiten der Grenzregimenter sind in der Organisation, Führung und Sicherstellung der Grenzsicherung unter den Bedingungen der veränderten Struktur und Dislozierung weiter zu festigen.
. . .
(3) An der Staatsgrenze zu Berlin (West) ist die Effektivität der Grenzsicherung weiter zu verbessern.

Die Anstrengungen sind insbesondere auf Grenzabschnitte im Staatsgebiet der Hauptstadt der DDR, Berlin, mit geringer Tiefe des Handlungsraumes zu richten.

Die nach Varianten geplanten Maßnahmen zur Verhinderung von Grenzdurchbrüchen sind zu vervollkommnen und ständig entsprechend der Entwicklung der Lage im Grenzabschnitt zu aktualisieren.

• • •

(9) • • •

Seite 280


Die Anstrengungen sind zu konzentrieren
• • •
b) an der Staatsgrenze der DDR zu Berlin (West) auf
• den Neubau von Beobachtungstürmen,
• die Installation der Grenzsignalzaunanlage 80 sowie von optoelektronischen Grenzsicherungsanlagen ..."


b) Befehl Nr. 80/84 des StMCGT Unterzeichner: Baumgarten

An der Erstellung u.a. beteiligt: Lorenz, Leonhardt mit Hilfe seines Stellvertreters Teichmann, Thieme und Gabriel

Geltungsdauer: 1. Dezember 1984 bis 30. November 1985

In der Anordnung heißt es u.a.:

"(1) Die Verbände, Truppen und Einheiten haben den zuverlässigen Schutz der Staatsgrenze der DDR zur BRD und zu Berlin (West) unter allen Lagebedingungen zu gewährleisten.

Grenzdurchbrüche sowie die Ausdehnung von Grenzprovokationen und bewaffneten Überfällen auf das Hoheitsgebiet der DDR sind nicht zuzulassen.
. . .
(2) Die Verbände, Truppenteile, Einheiten und Einrichtungen haben ständig eine hohe Gefechts- und Mobilmachungsbereitschaft zu sichern und unter allen Lagebedingungen bereit zu sein.
. . .
3. (1) Die Wirksamkeit der Grenzsicherung ist durch einen der Lage entsprechenden variablen und beweglichen Einsatz der Kräfte unter voller Nutzung aller durch das neue System der Grenzsicherung gegebenen Möglichkeiten weiter zu erhöhen.

Seite 281

Durch den abgestimmten tief gestaffelten Einsatz der Kräfte und Mittel ist zu sichern, daß Versuche des Grenzdurchbruches und andere Angriffe auf die Staatsgrenze rechtzeitig erkannt und durch entschlossene Handlungen zuverlässig verhindert werden.
. . . "


c) Befehl Nr. 40/84 des Kommandeurs des Grenzkommandos Mitte
Unterzeichner: Generalmajor Wöllner
Geltungsbereich: Grenzkommando Mitte
Geltungsdauer: 1. Dezember 1984 bis 30. November 1985

In dem Befehl heißt es u.a.:

"(12) Die Staatsgrenze der DDR zu Berlin (West) ist durch normale Grenzsicherung im 32-Stunden-Dienstrhythmus mit variabler Dienstzeit von 6 - 10 Stunden und bei überraschender Lageänderung selbständig oder auf Befehl durch eine andere Art der Grenzsicherung ununterbrochen und zuverlässig zu sichern.
. . .

4. Aufgaben der Truppenteile

4.1. Das Grenzregiment 33, eingesetzt im Raum der Hauptanstrengung, sichert den Grenzabschnitt Friedhof Rosenthal, Brandenburger Tor, richtet seine Hauptanstrengung auf die Abwehr von Versuchen des Grenzdurchbruches in den wahrscheinlichen Richtungen der Bewegung der Grenzverletzer.
. . .

Seite 282

d) Befehl Nr. 20/84 des Kommandeurs des Grenzregiments 33
Unterzeichner: Oberst Leo
Geltungsdauer: 1. Dezember 1984 bis 30. Mai 1985

"1. (1) ...
(3) Zur Erfüllung der dem Grenzregiment 33 im Befehl Nr. 40/84 des Kommandeur Grenzkommando Mitte gestellten Aufgaben

. . .
befehle ich:

unter den Bedingungen der weiteren gefährlichen Zuspitzung der internationalen Lage die Sicherung der Staatsgrenze der DDR zu Berlin (West) ununterbrochen und zuverlässig zu gewährleisten, Grenzdurchbrüche und die Ausdehnung von Provokationen auf das Hoheitsgebiet der Deutschen Demokratischen Republik nicht zuzulassen.
. . .

e) Am Abend des 30. November 1984 hielt sich der am 2. Oktober 1964 geborene Michael-Horst Schmidt mit Freunden im Jugendklub in der Grabbeallee in Berlin-Pankow auf. Seinem Freund und Arbeitskollegen, dem Zeugen Uwe Schröder, deutete er seine Fluchtpläne an.

Einige Zeit vor Mitternacht verließ Schmidt leicht angetrunken den Klub. Anschließend begab er sich zu dem Grenzbereich am S-Bahnhof Wollankstraße und der dort parallel verlaufenden Schulzestraße. Dort kannte er sich verhältnismäßig gut (Seite 283) aus. Seine Arbeitsbrigade, der er seit ca. 2 Jahren angehörte, war zu dieser Zeit mit Reparaturarbeiten in Häusern in der Wollank- und Schulzestraße beschäftigt.

Mit einer weiteren unbekannt gebliebenen Person verschaffte er sich 2 Leitern, die von seiner Arbeitsbrigade in einem Raum auf der Baustelle des Grundstücks Wollankstr. 112 deponiert worden waren. Beide begaben sich dann mit den Leitern zum Haus Schulzestr. 24.

Dort überquerten sie, nachdem sie sich Zugang zum Haus verschafft hatten, den Hinterhof in Richtung Grundstück Nr. 23 zu der dort befindlichen Hinterlandssicherungsmauer der Grenzsperranlagen. Während Michael-Horst Schmidt unter Zuhilfenahme der mitgeführten Leiter das erste Sperrelement überwandt, begab sich sein Begleiter mit seiner Leiter, sein Fluchtvorhaben aufgebend, offenbar auf den Hof zurück.

Nachdem Schmidt das erste Sperrelement überwunden hatte, überquerte er den Signalzaun. Dabei löste er akustischen sowie optischen Alarm aus. Bereits beim Übersteigen der Hinterlandsicherungsmauer wurde er durch das auf dem Beobachtungsturm befindliche Postenpaar, die Zeugen Walther und Hapke, bemerkt. Während der Zeuge Hapke entsprechend der getroffenen Anordnung den Turm verließ, öffnete der (Seite 284) Zeuge Walther ein Fenster, brachte seine Waffe in Anschlag, stützte sich ab und gab zunächst, nach entsprechendem Anruf, Feuer auf den sich mit seiner Leiter in Richtung Mauer, dem letzten Sperrelement, weiterlaufenden Flüchtling ab. Unmittelbar darauf schoß er gezielt auf den weiterlaufenden. Die Entfernung zwischen beiden betrug zu diesem Zeitpunkt ca. l00m. Gleichzeitig lief der Zeuge Hapke mit seiner Waffe ebenfalls zum letzten Sperrelement, um von dort aus das Fluchtvorhaben zu verhindern. Nachdem Schmidt die Mauer erreicht und die Leiter angelehnt hatte, wurde er während des Hinaufkletterns und nachdem er bereits mit den Armen die Mauerwulst umklammert hielt, weiter unter Beschuß genommen. Walther und Hapke schossen dabei gezielt auf ihn. Hapke feuerte dabei parallel zur Mauer. Getroffen rutschte Michael-Horst Schmidt von der Leiter herab und blieb schwerverletzt am Boden liegen.

Unmittelbar darauf liefen 2-3 Grenzsoldaten zu dem am Boden Liegenden. Eine Erste-Hilfe-Leistung erfolgte nicht. Einer der Soldaten trat den Verletzten mit Füßen, offenbar in der Absicht, sich zu vergewissern, ob der Getroffene noch lebe. Sodann wurde er an Armen und Beinen gepackt und in Richtung des Kolonnenweges gezerrt. Der Körper wurde dabei über den Boden geschleift. Anschließend wurde er (Seite 285) in ein Fahrzeug verbracht und zu einem noch nicht fertiggestellten Beobachtungsturm gefahren, wo er auf den Fußboden gelegt wurde.

Auf die Worte des Verletzten: „Helft mir doch, helft mir doch!“ wurde ihm von neben ihm stehenden Soldaten u.a. zynisch zugerufen: „Dir wird gleich geholfen.“

Mit einem Trabant-Kübelwagen wurde er später in halb sitzender, halb liegender Position aus dem Grenzbereich gefahren.

Ca. 45 Minuten brachte er dann auf dem Fahrzeug vor dem Tor zum Grenzbereich hilflos zu.

Sein Abtransport in das Krankenhaus der Deutschen Volkspolizei erfolgte erst gegen 04.25 Uhr mit einem Sanitätskraftwagen der Grenztruppen. In das Krankenhaus wurde er zwischen 05.30 Uhr und 06.00 Uhr eingeliefert.

Trotz ärztlicher Hilfsmaßnahmen verstarb er. Sein Tod wurde 06.20 Uhr festgestellt.

Die am 4. Dezember 1984 durchgeführte Leichenöffnung erbrachte u.a. folgende Befunde:

„Todesursache:

Innere und äußere Verblutung infolge Lungengewebszerreißung.“

Seite 286

Über den gescheiterten Fluchtversuch mit tödlichem Ausgang wurde durch Meldung vom 1. Dezember 1984 der Minister für Nationale Verteidigung sowie der Stellvertreter des Ministers und Chef des Hauptstabes, der anderweitig Verfolgte Keßler, durch den Angeschuldigten Baumgarten in Kenntnis gesetzt.

Walther und Hapke erhielten am 1. Dezember 1984 die Medaille für vorbildlichen Grenzdienst. Unterzeichner beider Urkunden ist der Angeschuldigte Baumgarten.

Die Ausbildung der Zeugen Walther und Hapke im Rahmen ihrer Tätigkeit an der Grenze erfolgte hinsichtlich der Verhinderung von Fluchten im wesentlichen wie folgt:

Die seinerzeit geltenden gesetzlichen Bestimmungen (§§ 26, 27 Grenzgesetz i.V.m. § 213 StGB/DDR) wurden offenbar nicht behandelt. Primär wurde ihnen erklärt, daß die Staatsgrenze gegen Feinde von innen und außen zu sichern sei. Flüchtende (sogenannte Grenzverletzer) seien Feinde, Feinde des Volkes und des Staates. Zwar sollte die Schußwaffe nicht eingesetzt werden, wenn Grenzverletzer durch andere Mittel, wie z.B. Nachlaufen, hätten gestellt werden können, jedoch war oberstes Gebot, jeden Grenzdurchbruchsversuch zu verhindern und dies - falls erforderlich - mit der Schußwaffe. Im äußersten Fall wurde auch das Erschießen von Grenz- (Seite 287) verletzern in Kauf genommen. Dabei war es gleichgültig, ob ein Grenzdurchbruchsversuch von einer Person allein oder von mehreren vorgenommen wurde. Beim Einsatz der Schußwaffe war jedoch darauf zu achten, daß Geschosse nicht westliches Territorium erreichten. untersagt war auch das Schießen auf Jugendliche und Frauen.

Am 22. Juli 1991 hat die Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht unter dem Aktenzeichen 2 Js 63/90 Anklage gegen Walther und Hapke wegen Totschlags erhoben.

Durch Urteil des Landgerichts Berlin vom 5. Februar 1992 wurde Walther zu einer Jugendstrafe von 1 Jahr und 6 Monaten und Hapke zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 9 Monaten verurteilt.

Die gegen dieses Urteil gerichteten Revisionen der Angeklagten Walther und Hapke wurden durch den Bundesgerichtshof am 3. November 1992 verworfen.

VI. Im Ausbildungsjahr 1985/1986 kam es aufgrund der nachstehenden Befehle zu zwei vollendeten Tötungshandlungen (Fälle 16 und 17).

Quelle: 2 JS 26/90 - Schwurgerichtsanklage, Seite 279-288