In der DV 30/10 vom 1. Mai 1967 des Ministeriums für Nationale Verteidigung war ebenfalls die Pflicht zum Einsatz der Schußwaffe vorgeschrieben, um Grenzdurchbrüche zu verhindern und die Festnahme des Grenzverletzers zu erreichen.

Schließlich war in der DV 318/0/002 vom 1. Dezember 1972 des Stellvertreters des Ministers und Chef der Grenztruppen geregelt, daß gezielte Schüsse auf Grenzverletzer abzugeben waren, wenn Warnschüsse keinen Erfolg gezeigt hatten. Die letzte hier bekannte Regelung zum Schußwaffeneinsatz im Grenzdienst, erlassen durch den Stellvertreter des Ministers und Chef der Grenztruppen am 1. Dezember 1974, die DV 018-0-007, ist hinsichtlich der Frage, ob bei drohenden Grenzdurchbrüchen eine Pflicht oder ein Recht zum Einsatz der Schußwaffe bestand, nicht eindeutig gefaßt.

 

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Einerseits wird in Abschnitt IX Nr. 237 (1) dieser Dienstvorschrift ein Recht zur Anwendung der Schußwaffe gegeben, andererseits aber angeordnet, daß nach einem erfolglosen Warnschuß gezieltes Feuer zu eröffnen ist (Abschnitt IX Nr. 239).

Mit der dargestellten offiziellen Befehlslage, die zum Zwecke einer wirksamen Grenzsicherung den möglichen Tod eines Grenzverletzers in Kauf nahm, ist auch das weitere Vorgehen nach Grenzzwischenfällen zwanglos zu vereinbaren.

So wurden die Schützen und beteiligten Postenführer nach Verhinderungen von Grenzdurchbrüchen mit Waffengewalt regelmäßig belobigt und ihnen Sonderurlaub gewährt. In vielen Fällen erhielten sie darüber hinaus Geldprämien oder eine Auszeichnung.

Wenn Grenzsoldaten sofort nach Schußwaffeneinsätzen im Grenzdienst in andere – meist grenzfernere - Einheiten versetzt wurden, so war dies keine Bestrafung, sondern diente vor allem dem Zweck, Rücksprache unter den Soldaten und eine Aufklärung des Sachverhalts in der betreffenden Einheit zu unterbinden, da beides nicht erwünscht war.

Von der oben dargestellten, ausdrücklichen schriftlichen Anordnung Grenzdurchbrüche von Ost nach West notfalls unter Einsatz der Schußwaffe zu verhindern und die Grenzverletzer festzunehmen oder zu vernichten, wurde in den Jahresbefehlen zur Grenzsicherung ab 1976 abgesehen.

Ausschlaggebend hierfür war wohl die Änderung der weltpolitischen Lage im Zusammenhang mit dem vorläufigen Abschluß der KSZE-Verhandlungen in Helsinki und dem Bemühen der DDR-Führung, als gleichwertiges Mitglied in der Völkergemeinschaft aufgenommen zu werden.

Dennoch war in der Folgezeit ein restriktiverer Einsatz von Schußwaffen im Grenzdienst weder von der militärischen Führung angestrebt noch in der Praxis festzustellen. Wichtigste Aufgabe der Grenztruppen war weiterhin - dies entsprach bis zum 9. November 1989 auch der offiziellen Befehlslage - die Undurchlässigkeit der Grenze zusichern und Grenzdurchbrüche nicht zuzulassen.

Dies schloß naturgemäß den Einsatz der Schußwaffe ein, sobald keine weiteren Mittel zur Verhinderung eines drohenden Grenzdurchbruchs mehr zur Verfügung standen.

Folgerichtig war die militärische Führung trotz der zurückhaltenderen Formulierung in den Befehlen zur Grenzsicherung nicht an einer Änderung der eingespielten Praxis interessiert.

Dies zeigt der Umstand, daß der Angeschuldigte Baumgarten sowohl im November 1979 als auch im November 1980 in seinen auf der jährlich stattfindenden großen Kommandeurstagung der Grenztruppen vorgetragenen Referaten zur Auswertung der Ausbildungsjahre 1978/79 bzw. 1979/80, jeweils unter Hinweis auf die im vorangegangenen Ausbildungsjahr erfolgten Grenzdurchbrüche, die Erhöhung der Bereitschaft der Grenzsoldaten forderte, Schußwaffen im Rahmen der geltenden Schußwaffenbestimmungen entschlossener und erfolgreicher gegen Grenzverletzer einzusetzen.

Im übrigen ergingen seit Ende der 70er fahre bei besonderen wichtigen politischen Anlässen (z.B. Staatsbesuchen) - in der Regel mündliche - Befehle des Kommandos der Grenztruppen, die bei Grenzzwischenfällen die Anwendung der Schußwaffe auf echte Notwehrlagen beschränkte und ansonsten strikt untersagte. Dieses Vorgehen zeigt ebenfalls, daß „im Normalfall“ eine Änderung der eingespielten Schußwaffenpraxis im Grenzdienst von dem Kommando der Grenztruppen keinesfalls gewollt war.

Auch das am 1. Mai 1982 in Kraft getretene Grenzgesetz änderte nichts an der grundsätzlichen Verpflichtung der Grenzsoldaten, die Grenze unter allen Lagebedingungen zu sichern und Grenzdurchbrüche nicht zuzulassen. Zur Erreichung dieses Ziels waren sie aufgrund der fortbestehenden Befehlslage gezwungen, notfalls zur Verhinderung von Grenzdurchbrüchen ihre Schußwaffen einzusetzen.

Folgerichtig sagte das Grenzgesetz zu den Pflichten des einzelnen Grenzsoldaten nichts aus, es stellte vielmehr nur klar, daß ein Schußwaffeneinsatz im Grenzdienst unter den in den §§ 26, 27 Grenzgesetz genannten Voraussetzungen gerechtfertigt sein sollte.

Diese Bewertung wird auch durch die von der politischen Verwaltung des Kommandos der Grenztruppen nach Inkrafttreten des Grenzgesetzes unter dem 10. Mai 1982 herausgegebenen

„Hinweise zur Klärung politisch-ideologischer Probleme des Schußwaffengebrauchs im Grenzdienst“

gestützt.

In dieser Abhandlung wird erneut darauf hingewiesen, daß jeder Grenzsoldat weiterhin verpflichtet ist, Grenzdurchbrüche nicht zuzulassen.

Wörtlich heißt es dort u.a.:

„Jeder, der Angriffe auf die Staatsgrenze der DDR unternimmt, muß sich der Tatsache bewußt sein, daß unser Grenzgebiet militärisches Sperrgebiet ist. In diesem Gebiet, das kann jeder selbst im Grenzgesetz nachlesen, existieren unter Berücksichtigung der örtlichen Bedingungen Schutzstreifen, Sperrzonen bzw. Grenzzonen mit besonderen Ordnungen und Grenzsicherungsanlagen. Jeder, der verbrecherische Aktionen gegen die Staatsgrenze der DDR durchführt, weiß genau, daß diese Grenze durch bewaffnete Angehörige der Grenztruppen der DDR gesichert wird, die ihre Waffe in Übereinstimmung mit den rechtlichen Bestimmungen treffsicher anwenden. Der richtige und wirksame Einsatz der Schußwaffe im Grenzdienst ist nicht nur eine gesetzliche Pflicht, sondern das zutiefst moralische und humanistische Recht eines jeden Angehörigen der Grenztruppen.

Für die Angehörigen der Grenztruppen der DDR war und ist, wie jetzt auch im Grenzgesetz fixiert, der Gebrauch der Schußwaffe im Grenzdienst stets die äußerste Maßnahme der Gewaltanwendung gegenüber Personen. Zwingt die Lage den Grenzsoldaten, die Schußwaffe unter strikter Beachtung der rechtlichen Bestimmungen einzusetzen, dann muß das damit verfolgte Ziel in jedem Fall erreicht werden. Jedes Zögern und Zaudern beim richtigen und notwendigen Einsatz der Waffe im Grenzdienst dient dem Feind, gefährdet das Leben der zur Sicherung der Staatsgrenze eingesetzten Kräfte und stellt die erfolg reiche Erfüllung des Kampfauftrages in Frage.“

Auch im übrigen ist nach Inkrafttreten des Grenzgesetzes ein abweichendes Verhalten der militärischen Führung von der seit 1961 gebräuchlichen Übung bei und nach Grenzzwischenfällen mit Schußwaffengebrauch nicht festzustellen.

Nach dem 1. Mai 1982 wurden Grenzzwischenfälle weiterhin in der Öffentlichkeit vertuscht und sogar in offiziellen militärischen Tagesmeldungen oftmals kaschiert dargestellt, indem von der „Festnahme“ des betreffenden Grenzverletzers berichtet wurde, wenn dieser tatsächlich erschossen worden war.

Ferner wurden die bereits dargestellte Belobigungspraxis fortgesetzt und bei wichtigen politischen Anlässen zeitweilige „Schießverbote“ verhängt. Des weiteren ist davon auszugehen, daß zumindest im Grenzregiment 33 – Grenzkommando Mitte - bis Ende 1984 noch die bereits mitgeteilte Vergatterungsformel, die in letzter Konsequenz die „Vernichtung“ eines Grenzverletzers einschloß, gebräuchlich war.

Erkenntnisse dahingehend, daß Grenzsoldaten zur Verantwortung gezogen worden sind, die zur Verhinderung eines drohenden Grenzdurchbruchs den betreffenden Grenzverletzer erschossen hatten, liegen für die Zeit nach Inkrafttreten des Grenzgesetzes ebenfalls nicht vor, obwohl bei den meisten tödlich verlaufenden Grenzzwischenfällen nachweislich - entgegen der damaligen Befehlslage - mit nicht beherrschbarem Dauerfeuer geschossen wurde.

Schließlich ist in diesem Zusammenhang noch der Protokollvermerk über die Sitzung des Militärrats der Grenztruppen vom 5. März 1987 von besonderer Bedeutung. In diesem sind Äußerungen des Angeschuldigten Baumgarten zu Tagesordnungspunkt 3, der sich mit den Aufgaben der Grenzsicherung während der bevorstehende 750-Jahr-Feier der Stadt Berlin befaßte, u.a. wie folgt stichwortartig festgehalten:

„Gegner versucht uns pol. Schaden zuzufügen. Deshalb große Bedeutung der Sicherungsmaßnahmen ... Noch nie eine so hohe Konzentration von politisch brisanten Maßnahmen, alles hineingestellt in die sozialistische Außenpolitik. ... Nicht nur Grenzkommando Mitte, gilt auch für gesamte Staatsgrenze. Initiative muß bei uns sein, Schußwaffe äußerste und letzte Mittel, wenn, dann mit dem 1. Schuß treffen. Keine langen Feuerstöße. Fahrlässigen Schußwaffengebrauch verhindern. Bei Festnahmen keine Möglichkeit der Aufklärung geben.“

Dieser Beitrag des Angeschuldigten Baumgarten blieb ausweislich des Protokolls unwidersprochen. Nach alledem steht zweifelsfrei fest, daß das Grenzgesetz auf die seit 1961 bestehende Befehlslage zum Schußwaffengebrauch bei drohenden Grenzdurchbrüchen von Ost nach West keinen Einfluß hatte und dies auch nicht beabsichtigt war.

Ersichtlich sollte mit Hilfe des Grenzgesetzes vor allem im Ausland der Anschein rechtmäßigen Handelns geweckt und darüber hinaus dem einzelnen Grenzsoldaten der gezielte Einsatz der Waffe bei Grenzzwischenfällen psychisch erleichtert werden. Denn die Sicherung der Unverletzlichkeit der Staatsgrenze war bis zum 9. November 1989 die wichtigste Aufgabe der Grenztruppen der DDR. Damit war bei Grenzverletzungen in Richtung Westen als letztes Mittel immer die Schußwaffe ohne Rücksicht auf die Folgen für Leib oder Leben des Grenzverletzers einzusetzen.

 


Quelle: Schwurgerichtsanklage 2 Js 15/92 (Generaloberst a.D. Baumgarten u.a.), Berlin, 20.10.1993, Seite 168 - 189
Tipp 1: Siekmann, Hanno
Das Unrechtsbewusstsein der DDR-"Mauerschützen" / von Hanno Siekmann. - Berlin : Duncker und Humblot, 2005. - 222 S. ; 23 cm. (Schriften zum Strafrecht ; 163)  Zugl.: Bielefeld, Univ., Diss., 2003.
ISBN 3-428-11451-5
Tipp 2: Rechtsphilosophische Aspekte der "Mauerschützen"-Prozesse / von Knut Seidel. - Berlin : Duncker & Humblot, 1999. - 311 S. ; 24 cm. (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 189) Zugl.: Saarbrücken, Univ., Diss., 1998.
ISBN 3-428-09748-3
Tipp 3: Systemunrecht und Strafrecht : am Beispiel der Mauerschützen in der ehemaligen DDR / Herwig Roggemann. - Berlin : Berlin-Verl. Spitz, 1993. - 167 S. ; 21 cm. (Quellen zur Rechtsvergleichung aus dem Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin ; 28)  Literaturverz. S. 72 - 75.
ISBN 3-87061-412-9
Tipp 4: Huhn, Diether
Mauerschützen : 2 Vorlesungen über d. Landgericht Berlin u.a. / von Diether Huhn. - Berlin : Fachhochschule f. Verwaltung u. Rechtspflege, Dekan d. Fachbereichs 2, 1992. - 51 S.
(Beiträge aus dem Fachbereich 2 / Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege Berlin, FB 2 (Rechtspflege) ; 10)