III. Einsatz der Schußwaffe bei drohenden Grenzdurchbrüchen in Richtung Westberlin und Bundesrepublik Deutschland Hauptaufgabe der 1961 gebildeten Grenztruppen war bis zur Öffnung der Grenzen der DDR am 9. November 1989 die

- in sämtlichen Jahresbefehlen zur Grenzsicherung des Ministers für Nationale Verteidigung und des Chefs der Grenztruppen festgeschriebene -

ununterbrochene und zuverlässige Sicherung der Staatsgrenze der DDR unter allen Lagebedingungen.

Daraus resultierte die Pflicht, Grenzverletzungen nicht zuzulassen und Grenzdurchbrüche zu verhindern. Nach dem Sprachgebrauch der DDR bezog sich der Begriff „Grenzverletzung“ auf die bevorstehende Flucht von DDR-Bürgern nach Westberlin oder in die Bundesrepublik Deutschland.

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Ähnliches gilt

- bis auf wenige ausdrücklich Ausnahmen -

für den ebenfalls gebräuchlichen Ausdruck „Grenzdurchbruch“. Zwar umfassen diese Begriffe aus objektiver Sicht auch mögliche Angriffe gegen eine Grenze von außen, insoweit war jedoch in den Grenztruppen der DDR die Bezeichnung „Grenzprovokation“ üblich. Es bedarf keiner weiteren Begründung, daß eine wirksame Sicherung der Grenze nach innen letztlich nur mit Hilfe lebensbedrohender Grenzsperren (wie z.B. Minenfelder) und vor allem durch den konsequenten Einsatz von Schußwaffen zu erreichen war.

Dementsprechend wurde in der DDR der Einsatz von Schußwaffen zur Verhinderung von Grenzdurchbrüchen in Richtung Westen nicht nur als gerechtfertig angesehen, sondern ausdrücklich befohlen. So enthielten in der Zeit von 1961 bis 1975 - mit Ausnahme der Jahre 1965, 1967, 1969 bis 1971, 1973 und 1974 - die Jahresbefehle des Kommandos der Grenztruppen zur Grenzsicherung die eindeutige Anweisung, Grenzverletzer festzunehmen bzw. zu vernichten. Diese Formulierung findet sich übrigens auch in den Befehlen Nr. 101/64, Nr. 101/65 und Nr. 101/75 des Ministers für Nationale Verteidigung.

Darüber hinaus ist in diesem Zusammenhang noch darauf hinzuweisen, daß in den Anordnungen Nr. 80 für die Ausbildungsjahre 1969, 1973 und 1974 die vergleichbar schwerwiegende Forderung erhoben wurde, zur Verhinderung von Grenzdurchbrüchen die Schußwaffe entschlossen und treffsicher anzuwenden.

Bereits diese eindeutigen und auch bei wohlwollender Beurteilung nicht auslegungsfähigen Formulierungen sind durchaus als schriftlicher

- von der politischen und militärischen Führung der DDR immer in Abrede gestellter -

„Schießbefehl“ zu werten, da der wirksamen Sicherung der Grenze grundsätzlich unbedingter Vorrang gegenüber dem Leben von DDR-Bürgern eingeräumt wurde. Denn die betreffende Anweisung zeigt zweifelsfrei, daß in letzter Konsequenz der Tod eines jeden DDR-Bürgers, der sein Land ohne staatliche Genehmigung verlassen wollte, in Kauf genommen wurde.

Auch der Umstand, daß sogenannte Grenzzwischenfälle an der Berliner Mauer oder der innerdeutschen Grenze zu keiner Zeit erwünscht waren, weil dadurch das politische Ansehen der DDR und der Staaten des Warschauer Paktes Schaden zu nehmen drohte, vermag unter Berücksichtigung des eindeutigen Wortlauts der getroffenen Anordnung eine andere Beurteilung nicht zu rechtfertigen.

Ferner stellten die seinerzeit vorgeschriebene Vergatterungsformel im Grenzdienst und die geltenden Schußwaffengebrauchsbestimmungen klar, daß Grenzverletzer notfalls zu vernichten waren. In der bis Anfang der 70er Jahre in den Grenztruppen vorgeschriebenen Vergatterungsformel wurde ausnahmsweise auch die unerlaubte Überwindung der Grenzanlagen in Richtung DDR als Grenzdurchbruch bezeichnet.

Aus der gewählten Formulierung geht jedoch zweifelsfrei hervor, daß insbesondere Grenzverletzer, die in das Bundesgebiet oder nach Westberlin flüchten wollten, festzunehmen oder zu vernichten waren.

Die betreffende Vergatterungsformel hatte sinngemäß folgenden Wortlaut:

„Die Einheit ist eingesetzt zur Grenzsicherung im Abschnitt des Grenzregiments Nr. ... Grenzdurchbrüche sind in beiden Richtungen nicht zuzulassen. Die Ausdehnung von Provokationen auf das Hoheitsgebiet der DDR ist zu verhindern. Grenzverletzer sind vorläufig festzunehmen bzw. zu vernichten.“

Entsprechend eindeutige Regelungen waren zumindest bis 1972 in den einschlägigen Schußwaffengebrauchsbestimmungen getroffen worden.

Ausweislich des Befehls des Ministers für Nationale Verteidigung Nr. 76/61 vom 6. Oktober 1961 waren die Angehörigen der Grenztruppen verpflichtet, Grenzverletzer notfalls unter Einsatz der Schußwaffe festzunehmen.

Auch die DV 30/9 vom 1. August 1963 des Ministeriums für Nationale Verteidigung ordnete an, daß die Schußwaffe, falls erforderlich, zur Festnahme von Grenzverletzern einzusetzen war. Deren Festnahme sollte mit allen Mitteln erzwungen werden. Sie waren vorläufig festzunehmen oder unschädlich zu machen.

 


Tipp: Lit.-Tipp 1: Siekmann, Hanno
Das Unrechtsbewusstsein der DDR-"Mauerschützen" / von Hanno Siekmann. - Berlin : Duncker und Humblot, 2005. - 222 S. ; 23 cm.
(Schriften zum Strafrecht ; 163) Zugl.: Bielefeld, Univ., Diss., 2003.
ISBN 3-428-11451-5
Lit.-Tipp 2: Seidel, Knut
Rechtsphilosophische Aspekte der "Mauerschützen"-Prozesse / von Knut Seidel. - Berlin : Duncker & Humblot, 1999. - 311 S. ; 24 cm.
(Schriften zur Rechtstheorie ; H. 189) Zugl.: Saarbrücken, Univ., Diss., 1998.
ISBN 3-428-09748-3
Lit.-Tipp 3: Roggemann, Herwig
Systemunrecht und Strafrecht : am Beispiel der Mauerschützen in der ehemaligen DDR / Herwig Roggemann. - Berlin : Berlin-Verl. Spitz, 1993. - 167 S. ; 21 cm. (Quellen zur Rechtsvergleichung aus dem Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin ; 28) Literaturverz. S. 72 - 75.
ISBN 3-87061-412-9
Tipp 4: Huhn, Diether
Mauerschützen : 2 Vorlesungen über d. Landgericht Berlin u.a. / von Diether Huhn. - Berlin : Fachhochschule f. Verwaltung u. Rechtspflege, Dekan d. Fachbereichs 2, 1992. - 51 S.
(Beiträge aus dem Fachbereich 2 / Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege Berlin, FB 2 (Rechtspflege) ; 10)